Urteil: Arbeitgeber müssen Arbeitszeiten systematisch erfassen

Überstunden machen viele - aber längst nicht alle werden auch notiert. Der Europäische Gerichtshof fordert nun Erfassungssysteme für alle.

Alle Dienstzeiten, alle Überstunden, jede Email nach Feierabend: Arbeitgeber in Europa sollen verpflichtet werden, die volle Arbeitszeit aller Beschäftigten systematisch zu erfassen. Das folgt aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Dienstag. Die Gewerkschaften begrüßten dies als Schutz vor unbezahlten Überstunden und Verfügbarkeit rund um die Uhr. Arbeitgeber warnen vor neuer Bürokratie.

Das EuGH-Urteil (Rechtssache C-55/18) löste sofort heftige Debatten aus, denn es könnte große Auswirkungen auf den Arbeitsalltag haben. Längst nicht in allen Branchen werden Arbeitszeiten systematisch erfasst: So sind in Deutschland nach Gewerkschaftsangaben mindestens 20 Prozent der Arbeitnehmer außen vor, unter anderem im Außendienst oder im Home Office.

Auch für sie fordert der EuGH ein "objektives, verlässliches und zugängliches System" zur Messung der geleisteten täglichen Arbeitszeit. Alle EU-Staaten müssten dies durchsetzen, entschieden die obersten EU-Richter. Denn ohne solche Systeme könnten weder die geleisteten Stunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden. Damit sei es für Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen. Jeder Arbeitnehmer habe jedoch ein Grundrecht auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten.

In dem Fall vor dem EuGH hatte eine Gewerkschaft in Spanien geklagt, wo die Rechtslage bis vor kurzem ähnlich war wie in Deutschland: Es bestand nur eine Pflicht zur Aufzeichnung der Überstunden - nicht der gesamten Arbeitszeit. Inzwischen hat die sozialistische Regierung in Spanien eine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung eingeführt. Sie lief allerdings keineswegs reibungslos an. Zahlreiche Unternehmen hätten die nötigen Vorkehrungen nicht getroffen, sagte eine Sprecherin des Gewerkschaftsdachverbandes CCOO.

Auch Heimarbeit oder Außendienst müsste nach dem Urteil künftig registriert werden, etwa über Apps oder am Laptop. Wird abends von zuhause noch dienstlich telefoniert oder werden E-Mails geschrieben, müssten danach elf Stunden Ruhezeit eingehalten werden.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände übte indes Kritik. Das Urteil sei wie aus der Zeit gefallen, erklärte der BDA: "Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert." Die Entscheidung dürfe keine Nachteile für Arbeitnehmer mit sich bringen, die flexibel arbeiteten. Auch künftig kann der Arbeitgeber aus Sicht des Verbands seine Beschäftigten verpflichten, ihre Arbeitszeit selbst aufzuzeichnen.

Schon bisher müssen allerdings Überstunden erfasst werden - was aus Sicht von Experten bedeutet, dass eigentlich auch schon heute die reguläre Arbeitszeit aufgezeichnet werden müsste. Auch Arbeitsminister Heil sagte: "Die Aufzeichnung von Arbeitszeit ist notwendig, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern." Es gehe schließlich um Löhne und Rechte, das sei "keine überflüssige Bürokratie." Vor einer möglichen Gesetzesänderung werde er das Gespräch mit Gewerkschaften und Arbeitgebern suchen, "damit wir das Richtige tun und nicht übers Ziel hinausschießen".

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